Im Sinne des Infektionsschutzes – aber auch im Sinne der Menschen?
Kiel, 12. Mai 2020
Nachdem nun viele Wochen vergangenen sind, in denen Schutzmaßnahmen vor dem Corona-Virus in „Einrichtungen“ der Eingliederungshilfe und Pflege umgesetzt wurden – nach vielen Wochen also, während denen Angehörige ihre Kinder und erwachsenen Angehörigen in den Wohnangeboten nicht oder kaum besuchen konnten, möchten wir uns nun an Sie wenden mit einem Offenen Brief, der in seiner Dringlichkeit durchaus einem Hilfeschrei ähnelt. Wir – das sind Eltern von Menschen mit Behinderung, Menschen mit Behinderung selbst und Vertreter von Einrichtungen. Wir haben als Fachverband in den vergangenen Woche unseren Fokus darauf gesetzt, bestehende Maßnahmen zu unterstützen und zu rechtfertigen – anderen Angehörigen gegenüber, und den betroffenen Menschen selbst gegenüber. Wir kommen nun klar an Grenzen.
Zitat Dorothea Paulsen (Angehörige und Vorstandsmitglied) zu dem Thema:
„Wir reden über alles Mögliche, aber über Menschen mit kognitiven Einschränkungen lese ich wenig. In der Behindertenhilfe leben Menschen eingeschlossen, kein Kontakt zu Angehörigen. Wie vermittele ich meinem Sohn, dass wir uns nicht sehen dürfen und wenn, wie jetzt, mit 2 Meter Abstand, nur nicht berühren, wobei es bei ihm auf das Anfassen ankommt, in den Arm nehmen?“
In den vergangenen Tagen erreichten uns immer mehr Rückmeldungen dieser Art zu den Besuchsregelungen in Einrichtungen, geprägt von vielen Fragen bis hin zur Verzweiflung.
„Wir erleben eine beispiellose Einschränkung von Grundrechten bei den Menschen mit kognitiven Einschränkungen als auch bei den Angehörigen. Welch´ eine Bevormundung findet hier statt?“
Angehörige haben bisher alle Vorschriften unterstützt - wohl an der einen oder anderen Stelle hinterfragt -, aber im Sinne aller mitgetragen. Viele Menschen mit Behinderung haben ihre Angehörigen als Folge fehlender Quarantänemöglichkeiten, oder den absehbaren Folgen einer Quarantäne für die Betroffenen in den vergangenen Wochen nicht gesehen. Sie haben Kontakt gehalten per Telefon - wenn möglich, oder per Video - wenn die Bedingungen und die Kommunikationsfähigkeiten der Menschen mit Behinderung es zuließen. Immer in der Hoffnung, dass es bald wieder möglich sei, sich zu sehen und in den Arm zu nehmen.
Die nun bestehenden Besuchsregelungen mögen vor dem Hintergrund des Infektionsschutzes nachvollziehbar sein, vor dem Hintergrund sozialen Miteinanders grenzen sie an Absurdität.
Menschen, die nicht sprechen können, und / oder nicht nachvollziehen können, warum Mutter und Vater bei einem Besuch hinter einer Glasscheibe sitzen, und sie seit Wochen nicht besucht haben, leiden unter dieser Situation zunehmend. Manche kündigen an „wegzulaufen“, andere weinen am Telefon, und bitten darum „rausgeholt zu werden“. Es schleicht sich bei allem Wohlwollen ein Bild vor das innere Auge, dass man im Zusammenhang mit Menschen mit Unterstützungsbedarf definitiv nicht haben möchte!
Außerdem ist alles vor dem Hintergrund zu betrachten, dass „Einrichtungen“ die räumlichen und personellen Bedingungen zunächst auch erstmal haben müssen, die für eine solche Besuchsregelung notwendig sind. Ganz zu schweigen von ausreichend Plexiglasscheiben und Desinfektionsmittel.
Es bleiben bei allem leider immer mehr Fragen als Antworten. Und auch wenn in einer Zeit, in der „richtig“ und „falsch“ einmal mehr täglich änderbar zu sein scheinen, so muss es doch Ziel von Landesregierung und Kommunen sein, dafür zu sorgen, dass Menschen, deren Selbstbestimmungsrecht in den vergangenen Jahres immer mehr in den Mittelpunkt gerückt wurde, dieses Recht auch (er-)leben können. Das BTHG hat aus BewohnerInnen stationärer Einrichtungen MieterInnen gemacht... ein Verhältnis von Mieter zu Vermieter schließt Maßnahmen, wie oben beschrieben, im Grundsatz aus. Corona hat dieses Verhältnis schnell wieder in eine „stationäre Realität“ zurückgeholt.
Weiterhin ist bei allen Versuchen, für alle bestehenden Angebote vor Ort gütliche Regelungen für die Corona-Zeit zu finden, zu beobachten, dass es durchaus Amtsentscheidungen gibt, die Menschen noch mehr unter Druck setzen (z.B. Regelungen, Platzfreihaltegeld nicht länger als 28 Tage zu zahlen, wenn Angehörige zum Infektionsschutz aus den Einrichtungen geholt wurden, da akute Lebensgefahr bestünde).
Der Vorstand des Lebenshilfe Schleswig-Holstein e.V. bittet daher eindringlich darum, die Schicksale der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen zu berücksichtigen. Es muss andere Wege geben, als Teile der Gesellschaft „wegzuschließen“ und in soziale Isolation zu verdammen. Die Möglichkeiten, Testungen auf das Corona-Virus für Angehörige regelmäßig durchzuführen, damit diese in echten Kontakt mit ihren Angehörigen mit Behinderung gehen können, müssen möglich sein.
Was für die Bundesliga machbar ist, darf für Menschen in Einrichtungen nicht ein Ziel in ferner Zukunft
sein.
Wir stehen zu einem Austausch immer gern zur Verfügung!
Freundliche Grüße
Vorstand Lebenshilfe Schleswig-Holstein e.V.
i.A.
Dr. F.- Michael Niemann
(1.Vorsitzender)
Silvia Stefanec-Bruhn
(2.Vorsitzende)
Diese Schreiben entstand unter anderem in Rückkopplung mit Fritz Bremer (Angehöriger und Mitglied des Beirates von Menschen mit Behinderung). Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf das Schreiben, dass er selbst in diesem Zusammenhang in den vergangenen Tagen versandt hat.